DAS LINEAL DER GERECHTIGKEIT
Die Gruppenausstellung von SILVIA BÄCHLI, GETA BRĂTESCU und
ANDREA TIPPEL „Das Lineal der Gerechtigkeit“ fragt ausgehend von den
vielfältigen Werkkomplexen der drei Künstlerinnen Silvia Bächli (* 1956 in
Baden, Schweiz), Geta Brătescu (*1926 in Ploiesti, Rumänien) und Andrea Tippel
(*1945 in Hirsau / Schwarzwald; †2012) danach, wie sich spezifische
Lebensumstände in künstlerische Arbeitsprozesse einschreiben. Im Fokus stehen
dabei das Zeichnen sowie diagrammatische Aufzeichnungsverfahren als Aneignung
von unterschiedlich soziopolitisch geprägter Lebenswelt und ihrer Wahrnehmung.
Jeder Strich entspricht einer Haltung und steht im Bezug zum eigenen Körper.
Zugleich dient den drei Künstlerinnen die Zeichnung als Ausgangspunkt für den
Transfer in andere Medien wie Collage, Buch, Skulptur, Fotografie, Film und
Performance.
Das Zeichnen war für Andrea Tippel ein hermeneutischer
Prozess, eine Welt-Aneignung und der Versuch, in ihm die Zeit festzuhalten. Der
Titel der Ausstellung „Das Lineal der Gerechtigkeit“ ist zugleich Titelteil
einer Arbeit der Künstlerin und verweist auf das Medium der Zeichnung sowie
vielfältige Weisen der Abstrahierung. Mit einem Lineal wird eine Linie gezogen,
die trennt, verbindet oder hervorhebt. Lege ich das Lineal an oder wird es von
anderen geführt und ist die Linie stets grade oder auch unscharf, wellenförmig?
Die phantasmatische Vorstellung, dass es einen Gegenstand gibt, mit dem man
Gerechtigkeit walten lassen kann, wird von Andrea Tippel in humoristischer
Weise gewendet. In ihren Arbeiten vereinen sich Diagramme mit philosophischen
Aussagen, werden kryptisch, durchzogen von einer spürbaren Unruhe. Eine
Befragung der Zeitlichkeit und ein Beharren auf dieser, sowohl theoretisch als
auch praktisch, kehren in ihren Arbeiten immer wieder.
Für Silvia Bächli sind gute Zeichnungen größer als das
Papierformat. Zeichnen ist Raum schaffen, mit den und gegen die Ränder des
Papiers arbeiten. In ihrer künstlerischen Praxis gibt es zwei Zeiten: die Zeit
des Malens und Zeichnens sowie die Zeit des Auswählens, des Neu-Sortierens und
des Zusammenstellens. Welches Blatt wird wohin bewegt, welche Technik wird ihm
zuteil ? Woraus entwickeln sich Form und Struktur ? Neben einer großformatigen
Wandarbeit zeigt Bächli kleinformatige Zeichnungen auf sieben Tischvitrinen. In
diesen thematischen Gruppierungen tellt die Künstlerin Verbindungen zwischen
einzelnen Blättern her, deren Entstehung oft Jahre auseinander liegen. In
dieser beständigen Sichtung und Neuordnung der eigenen Arbeit findet auch eine
Wiederaneignung des eigenen Werkes statt.
Unter dem kommunistischen Regime ihrer Heimat Rumänien
arbeitete Geta Brătescu bis 1989 unabhängig von internationalen Tendenzen in
ihrem Atelier in Bukarest. Ohne breites Publikum, aber im Dialog mit anderen
südosteuropäischen Avantgardekünstlern entwickelte sie eine vielseitige
künstlerische Praxis, in der sich das Zeichnerische und das Performative auf
Papier, in textilen Objekten oder im Video verbinden. Häufig sind Arbeiten
seriell konzipiert und deklinieren bestimmte Gesten und Formen in leichten
Variationen durch. In den ›Drawings with your eyes closed‹ zeichnete Brătescu
blind, als ihr der eigene Strich zu sicher und perfekt erschien. Diese
Verunsicherung der Linie ist gleichzeitig ein Sichtbarmachen des Unbewussten
und seiner Prägungen durch die soziopolitischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts.
In der Ausstellung werden grafische Werke der letzten fünf Jahre sowie zwei
Video-Arbeiten gezeigt. Geta Brătescu: aus der Serie „Jeu de Formes (Jocul formelor)“.
Courtesy
Geta Brătescu und Ivan Gallery, Bukarest
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